Verbundprojekt SiSi: „Sinnüberschuss und Sinnreduktion von, durch und mit Objekten. Materialität von Kulturtechniken zur Bewältigung des Außergewöhnlichen“
Forschungsfragen und Ziele
Der interdisziplinäre Verbund „SiSi“ untersucht, wie Menschen den Bedeutungsüberschuss von Dingen nutzten und nutzen, um Sinn und Handlungsorientierung zu finden. Es geht um objektbasierte Praktiken zur Bewältigung außergewöhnlicher Situationen (beispielsweise Krisen, Ungewissheit und Veränderung) mit den komplementären Aspekten von Sinnüberschuss und Sinnreduktion, wobei eine Verschränkung von Sinn-Bedürfnis und Handlungsfähigkeit angenommen wird. Rituale, in die Objekte eingebunden sind, um ihnen eine schützende Wirkung abzugewinnen, werden ebenso untersucht wie Prozesse, durch die Dinge zum materialisierten schlechten Omen wurden. An der kultur- und zeitübergreifenden Forschungsfrage arbeiten Forschende aus Ägyptologie, Altamerikanistik / Ethnologie, Medizingeschichte und Psychiatrie / Mad Studies zusammen.
Das Potenzial der Verflechtung dieser sogenannten Kleinen Fächer und des Austauschs über theoretische Fragen und methodische Herangehensweisen, die insbesondere Arbeiten mit Objektsammlungen in universitären Museen (Ägyptisches Museum und BASA-Museum) und die partizipativ fundierte Generierung und Exploration neuer Wissensbestände einschließt, versprechen einen hohen wechselseitigen Zugewinn an Kompetenz und Reflexion.
Die in den vier Teilprojekten untersuchten Objekte sind höchst unterschiedlich: altägyptische Amulette, chaquiras in den Anden und im Amazonasgebiet, medizinische Geräte zur „Nervenberuhigung“ um 1900 und individuelle dingliche Bedeutungsträger krisenerfahrener Menschen seither. Diese kulturellen Dinghorizonte in Kontexten von „Vormoderne“ und „Moderne“ sowie aus verschiedenen Regionen der Welt werden in eine hermeneutisch produktive Spannung gebracht, wobei der Blick auf amerindische Gesellschaften dichotome Kategorien wie vormodern/modern und mythisch/wissenschaftlich fluide werden lässt. Aufbauend auf die Ergebnisse der miteinander vernetzt arbeitenden Teilprojekte sollen übergreifende Thesen über den Zusammenhang von verschiebbaren Ding-Bedeutungen und erlebten Handlungsmöglichkeiten von Menschen zur Diskussion gestellt werden.
Struktur, Finanzierung und Laufzeit
In dem Verbundprojekt kooperieren die Universität Bonn mit der Abteilung für Ägyptologie und der Abteilung für Altamerikanistik und Ethnologie, die Universität Düsseldorf (Medizingeschichte) und die Medizinischen Hochschule Brandenburg (Psychiatrie/Mad Studies). Die Verbundkoordination hat Prof. Dr. Ludwig Morenz (Ägyptologie) inne; jedes Teilprojekt wird von einem*r wissenschaftlichen Mitarbeiter*in bearbeitet. Das Teilprojekt Altamerikanistik und Ethnologie wird von Prof. Dr. Karoline Noack geleitet und von Naomi Rattunde M.A. bearbeitet.
Das Forschungsprojekt wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) in der Förderlinie „Sprache der Objekte“ finanziert und hat eine dreijährige Laufzeit (1. September 2018 bis 31. August 2021).
Teilprojekt Altamerikanistik und Ethnologie / BASA: chaquiras in Südamerika
Im Teilprojekt Altamerikanistik / Ethnologie werden chaquiras aus dem Hoch- und Tiefland Südamerikas sowie die Sinnzusammenhänge und Praktiken, in die sie eingebunden waren und sind, untersucht. Chaquiras sind Perlen – im engeren Sinne von den Spaniern in die Amerikas eingeführte Glasperlen, im weiteren Sinne aus unterschiedlichsten Materialien hergestellte Perlen, wie etwa aus Muscheln, Stein, Metall, Keramik, Zähnen, Krallen, pflanzlichen Samen oder aus Plastik – und daraus gefertigte Artefakte – Dinge, die zusammenfassend als „Schmuck“ bezeichnet werden können.
Der Sinn der chaquiras ist jedoch nicht darauf beschränkt, die Körper ihrer Trägerinnen und Träger zu verschönern, sondern die Praktiken des Schmückens menschlicher Körper sind in spezifische Vorstellungswelten eingebettet und wesentlicher Bestandteil der Konstitution des Selbst, die immer auch in Abgrenzung zu und in Aushandlung mit anderen geschieht. Seit der ersten Begegnung von Europäern und Indigenen in der Karibik sowie im weiteren Verlauf der Kolonisierung der Amerikas waren die chaquiras im engeren Sinne, die Glasperlen, ein wichtiges – von den Indigenen begehrtes und von den Spaniern leichtfertig gegebenes – Gut des Austauschs. Sie sind zugleich Vermittler zwischen Angehörigen dieser beiden „Welten“, Medium des Umgangs mit Alterität in Kontaktzonen seit dem 15. Jahrhundert bis in die Gegenwart. So ist nicht verwunderlich, dass chaquiras in Mythen verschiedener indigener Gesellschaften über die Herkunft der „Weißen“ eine Rolle spielen, die dabei nicht selten sinnbildlich für Andere im Allgemeinen stehen. Darüber hinaus sind auch andere Materialien, aus denen chaquiras gefertigt werden, sowie damit verbundenes Wissen und Techniken in den Ontologien indigener Gruppen häufig exogenen Ursprungs (Lagrou 2013[1]).
Die dingliche Wissensbasis des Teilprojektes sind die chaquira-Artefakte im Bestand des BASA-Museums (Bonner Amerikas-Sammlung). Hierzu zählen archäologische chaquiras aus dem Andenraum, insbesondere aus Muscheln und Stein, sowie ethnographische chaquiras verschiedener indigener Gruppen aus dem Tiefland (Amazonasgebiet und Chaco) und dem Hochland Südamerikas. In dem Forschungsprojekt werden die Objekte aus zwei ethnographischen Sammlungen genauer untersucht: zum einen wallkas (Ketten aus vergoldeten Glasperlen) und maki watana (Armbänder aus rotem mullu), die von Kichwa-Frauen in Otavalo im nördlichen Hochland Ecuadors getragen werden, und zum anderen aus bestimmten Samen und Zähnen von Tieren gefertigte Ketten der Waorani, die im ecuadorianischen Amazonasgebiet leben.
In dem Forschungsprojekt werden grundlegende Fragen nach der Provenienz dieser Objekte beantwortet, mit ihrer Herstellung verbundene Prozesse sowie ihre Funktionen und Bedeutungen in den jeweiligen Urhebergesellschaften untersucht. Diese Kontexte und Sinnzusammenhänge, in die die chaquiras eingebunden sind, werden in historischer, vergleichender und gegenwartsbezogener Perspektive auf Grundlage vorhandener ethnographischer und archäologischer Arbeiten erschlossen. Darüber sind insbesondere die Praktiken mit den chaquira-Artefakten Gegenstand zweier während der Projektlaufzeit zu realisierenden Feldforschungen in Ecuador.
Mit Blick auf das Thema des Verbundprojektes insgesamt gilt es, im Verlaufe des Projektes auch diese Fragen zu beantworten: Inwieweit können Kontaktzonen als außergewöhnliche Situationen oder als Krisen betrachtet bzw. welche spezifischen Kontaktzonen können als außergewöhnlich oder krisenhaft beschrieben werden? In welchem Verhältnis stehen Krise, das Außergewöhnliche und das Alltägliche? Inwiefern sind chaquiras außergewöhnlich?
Die im Rahmen des Teilprojekt Altamerikanistik und Ethnologie entstehende Dissertation trägt den Arbeitstitel Lo que cuentan las cuentas. Materialidad y asociaciones de chaquira, wallka, mullu y wamo como mediadores en zonas de contacto en la longue durée. Aproximaciones desde Otavalo y el territorio Waorani en Ecuador (Was die Perlen (er)zählen. Materialität und Assoziationen von chaquira, wallka, mullu und wamo als Vermittler in Kontaktzonen in der longue durée. Annäherungen aus Otavalo und dem Waorani-Territorium in Ecuador).
Stand mit wallka und mullu auf der Feria de la Plaza de los Ponchos in Otavalo; Kette im patokai-Gewebe, Kette mit pantomo-Samen (wayruru) und Pekarizähnen in der Waorani-Gemeinde Tepapare. Naomi Rattunde, 2019. |
[1] Lagrou, Els (2013). „Chaquira, el inka y los blancos: las cuentas de vidrio en los mitos y en el ritual kaxinawa y amerindio“. Revista Española de Antropología Americana 43.1: 245-265.