Autobiographische Erzählungen aus Amazonien
Einleitung
Die Gattung Autobiographie wurde bisher in erster Linie von den Geschichts- und Literaturwissenschaften, der Soziologie und der Psychologie analysiert. Die Mentalitätsgeschichte hat ein neues Interesse an einzelnen Personen und ihrer Weltsicht hervorgerufen, somit ist seit einiger Zeit ein Trend von der Makro- zur Mikrohistorie erkennbar. Indigene Lebensgeschichten (seltener Autobiographien) sind keine autochthone Gattung, sie entstanden erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Nordamerika, und zwar im historischen Kontext der allmählichen Unterwerfung der indigenen Gesellschaften und der Besetzung ihrer Siedlungsgebiete.
Auffällig ist die Diskrepanz bezüglich der Anzahl veröffentlichter indigener Lebensgeschichten zwischen Nordamerika (über 300) und Mittel- und Südamerika (ca. 40).
In seinen Studien über frühe Lebensgeschichten nordamerikanischer Indianer hat David Brumble (1984) gezeigt, dass die Kindheit durchweg ausgeklammert wurde. Dies sei charakteristisch für Individuen, die einer „preliterate tradition“ angehörten, für die das eigene Leben aus ihren Taten als Erwachsene bestand. Eine Auffassung von der Entwicklung der Persönlichkeit im westlichen Sinne gäbe es hier nicht: Geschichte des eigenen Lebens ist die des erwachsenen Menschen.
Kulturraum
Etwa 700 Secoya (Sprachfamilie Tukano) leben im Tiefland Ecuadors und Perus. Vorliegende Forschung findet bei den Secoya Ecuadors statt.
Vorarbeiten
Seit 1983 liegt der geographische Schwerpunkt meiner Forschungen in Ost-Ecuador, thematisch liegt er in der Aufnahme, Dokumentation und Bearbeitung der oralen Traditionen der Secoya und der Ethnohistorie der Region (u. a. Cipolletti 1985, 1988, 1990, 1997, 2000, 2003, 2006).
Die erste Lebensgeschichte veröffentlichte ich im Jahre 1987 für einen Lama-Hirten des Andenhochlandes (Nordwestargentinien). Die Erinnerungen eines Schamanen der Secoya wurden zwischen 1983 und 1992 aufgezeichnet und 2008 in Zusammenarbeit mit ihm veröffentlicht.
Meine Forschungsergebnisse stimmen mit den Ausführungen Brumbles über präliterarische Traditionen überein: Der alte Schamane erzählte nichts über seine Kindheit, für ihn begann sein Leben mit den ersten Erfahrungen mit halluzinogenen Pflanzen, die ihm seine ersten Visionen ermöglichten. Der für ihn entscheidende Augenblick war nicht seine Geburt, sondern seine ersten Schritte auf dem Weg zum Schamanen.
Ziele
Im Rahmen des Projektes soll die Erzählstruktur indigener Lebensgeschichten dokumentiert und analysiert werden. Diverse Lebensgeschichten von Secoya beiderlei Geschlechts, unterschiedlichen Alters und sozialer Position sollen als Beitrag zum Verständnis von Lebensauffassungen, narrativer Strategien und kultureller Prozesse in außereuropäischen Gesellschaften mit den Methoden der Diskursanalyse verglichen werden. Es ist zu vermuten, dass sich diese hinsichtlich Weltanschauung und narrativer Strategie von nicht religiös spezialisierten Individuen stark unterscheiden und dass junge Individuen mit Schulbildung bereits eine chronologische (westliche) Erzählweise übernommen haben.
Im Unterschied zu einer „folk-history“ wird bewusst von der Frage nach der objektiven Wahrheit des Erzählten Abstand genommen, da jede Darstellung des eigenen Lebens eine Selbstinterpretation darstellt.
Die methodologischen Schritte bestehen aus der Aufnahme der Texte, der Transkription und der Verschriftlichung in Zusammenarbeit mit dem/r Erzähler/in. Die schriftliche Fassung soll dem tatsächlichen Erzählfluss entsprechen und nicht in ein starres, künstliches, chronologisches Gerüst gepresst werden. Passagen werden nicht aus dem Kontext gerissen und Wiederholungen nicht ausgelassen. Somit wird primär dem Erzähler gefolgt und kein Kompromiss gegenüber dem Leser eingegangen. Es soll das vermieden werden, was mit den meisten indigenen Lebensgeschichten geschieht, nämlich dass ihr Inhalt „indigen“ ist, nicht aber Form und Duktus, denen ein westliches Verständnis von Chronologie aufoktroyiert werden.
Im Gegensatz zur herkömmlichen Praxis wird der Aufzeichner/Herausgeber nicht als Alleinautor fungieren, sondern die Erzähler werden als Koautoren aufgeführt.
Dieses Vorhaben erlaubt eine immanente Einsicht in eine Kultur, an der die herkömmlichen Methoden der Ethnographie oft scheitern. Darüber hinaus verleiht es einer indigenen Gesellschaft, die sich schriftlich nicht ausdrückt, eine zusätzliche Stimme und somit auch eine bessere Wahrnehmung innerhalb der multiethnischen Gesellschaft Ecuadors.
Finanzierung
Vorliegendes Projekt wird im Rahmen der Forschergruppe „(O)ratio aliena: Narrative Strukturen in nicht-abendländischen Texten“ (Institut für Orient-und Asienwissenschaften der Universität Bonn, Leitung Prof. Stephan Conermann) durchgeführt und durch das Rektorat der Universität Bonn für ein Jahr gefördert (2008-2009).
Ansprechpartnerin:
apl. Prof. Dr. María Susana Cipolletti
Fotos: M.S.C., San Pablo, Ecuador, zwischen 1983 und 1996 aufgenommen